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Otto Nagel: Mitglied des revolutionären Soldatenrates Köln

Der Kommunist Otto Nagel (1894-1964)

(gefunden in Saschas Welt https://sascha313.wordpress.com/)
Die Kinderbücher der DDR waren fast ausschließlich pädagogisch wertvolle, lehrreiche und professionell gestaltete kleine Kunstwerke, eben eine interessante und kindgerechte Lektüre. Kein Wunder also, wenn viele dieser Bücher (heute natürlich nur die ohne politischen Inhalt) neu aufgelegt werden und sich großer Nachfrage erfreuen. Wer kennt sie nicht „Nimmerklug im Knirpsenland“, „Das Kinderlexikon“, „Grimms Märchen“, „Tinko“, „Der Neger Nobi“, „Timur und sein Trupp“, „Die Feuertaufe“, „Peter und der Wolf“ oder „Wie der Stahl gehärtet wurde“… Eines dieser Kinderbücher war auch die „Zaubertruhe“ – ein Almanach, der für junge Mädchen gemacht war. Hier nun eine Geschichte aus diesem Buch über den berühmten Berliner Maler, den Kommunisten Otto Nagel, aufgeschrieben von seiner Tochter:
Sibylle Schallenberg-Nagel: Mein Vater Otto Nagel
Als ich eines Tages den Anruf der „Zaubertruhe“ erhielt mit der Bitte, etwas über meinen Vater zu schreiben, sagte ich begeistert zu. Aber als ich mich dann etwas näher mit dieser Aufgabe beschäftigte, merkte ich, daß es gar nicht so einfach ist, das auf wenigen Seiten zu tun. Allein schon deshalb, weil Otto Nagel ein reiches und erfülltes Leben hinter sich hatte und man versucht ist, nichts, aber auch gar nichts von dem, was er uns mündlich und auch schriftlich überliefert hat, auszulassen.
Sechs Menschen wohnten bereits in der Weddinger Wohnung, die aus der Berliner Stube und einer Küche bestand, als Otto Nagel am 27. September 1894 zur Welt kam. Ein weiterer kleiner Raum wurde von seinem Vater als Werkstatt für eine Möbeltischlerei benutzt. „Das Mobiliar der Berliner Stube bestand aus den üblichen Möbelstücken. Ringsherum standen die Betten, es gab ein Sofa mit einem davor stehenden ovalen Tisch, auf dem ein Fotoalbum in einem Ständer stand. In einer Ecke befand sich noch ein Vertiko mit Aufsatz, auf dem verschiedene Nippesgegenstände standen. Der Hof, auf den das Fenster ging, war dunkel. Dem Fenster gegenüber befand sich der schwarze Giebel des Nebenhauses, der die eine Hälfte der vierten Hofseite zudeckte, die zweite Hälfte wurde von einer Mauer begrenzt, hinter der sich ein niedriges Gebäude befand, in dem eine Lumpenstampe untergebracht war. Die übrigen drei Hofseiten stiegen steil vier Stockwerke empor. Nur hin und wieder schwebte über einem Fensterbrett auf magerem Stengel eine rote Geranie, die etwas Farbe in die trostlose Dunkelheit brachte.“
Aufgewachsen im Berliner Proletariermilieu
In diesem für die damalige Zeit typischen Berliner Proletariermilieu wuchs Otto Nagel auf. Seine Kameraden mußten schon früh mitverdienen. Gewöhnlich arbeiteten sie irgendwo als Laufburschen in einem Laden. Nun hatten aber in der damaligen Zeit die Geschäfte bis gegen 21 Uhr geöffnet, so daß die Jungen müde und abgespannt nach Hause kamen. An Schularbeiten dachte man daher kaum – wofür es in der Schule immer wieder die obligatorische Prügelstrafe gab. „Da war ein Turnlehrer, der bei jeder Gelegenheit schlug. Ich habe ihn provoziert, damit er es auch einmal bei mir versucht. Ich hielt seinen Rohrstock fest und rannte immer wieder um ihn herum. Meine Absicht war, ihn lächerlich zu machen, was mir auch gelang. Es ist doch merkwürdig, daß ich dann, nach meiner Schulentlassung, durch Besuch von Abendschulen, durch Studieren der politischen Literatur und zeitkritischen Publikationen freiwillig und mit wahrer Begeisterung mein Wissen vervollkommnete. Am Tage arbeitete ich, aber die halbe Nacht hindurch saß ich bei der Petroleumlampe in der Küche und las und las, und nie war es mir zuviel, auch wenn ich morgens unausgeschlafen zur Arbeit ging.“ Spielplätze gab es damals nicht. „Für uns war der Rinnstein ein wichtiger Spiel- und Planschort, der aus meiner Kindheit gar nicht fortzudenken war.“ Die Kinder des Wedding wurden schon früh erwachsen, sie kannten das Leben mehr, als nötig gewesen wäre. Ihre Umwelt war das Elend, und nur wenigen von ihnen gelang es, sich über diese Misere zu erheben.
Der erste Aquarellkasten
Im Alter von neun oder zehn Jahren begann mein Vater mit der Malerei. Anlaß dazu war ein kleiner Aquarellkasten, den er zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte. „Jetzt konnte ich mich austoben und allerhand bunte Dinge auf das Papier zaubern.“ Als Otto Nagel dreizehn Jahre alt .war, gab eines Tages ein Mann seinem Vater eine Puppenküche in Auftrag. „Mir machte es viel Spaß, für diese Puppenküche kleine Wandbildchen zu malen.“ Herr Hölzelmeyer war von diesen Bildern so begeistert, daß er Otto Nagel in die Kunstgewerbeschule zum Direktor Bruno Paul mitnahm. Der war von den vorgelegten Arbeiten beeindruckt und sicherte meinem Vater eine Freistelle an seiner Schule zu. Allerdings sollte Otto Nagel erst einmal eine kunstgewerbliche Lehre aufnehmen. „Ich kam als Lehrling in die exklusive Kunstwerkstatt für Glasmalerei und Mosaik des Gottfried Heinersdorf im Bayrischen Viertel von Berlin, ganz entgegengesetzt dem Wedding. Mancher meiner Freunde beneidete mich. Aber ich selbst tat mir leid: meinen geliebten Wedding, die grauen Straßen mit den unzähligen Mietskasernen und den dazwischengeschobenen kleinen Häuschen verlassen! Nicht mit Menschen zusammen sein, die in Haltung und Bewegung waren wie ich selbst.“

 
Die Glasmaler, bei denen mein Vater nun in die Lehre ging, fühlten sich als Künstler. Sie trugen lange Haare, ein Sammetjackett und eine breite Künstlerschleife. Auf dem Kopf hatten sie große Schlapphüte. Aber das Besondere an ihnen war, daß sie „Sie“ zueinander sagten. Die Bleiverglaser im gleichen Betrieb verdienten zwar mehr, redeten sich aber mit „du“ an. Von Anfang an fühlte Otto Nagel sich zu ihnen hingezogen. Wie sah aber nun diese Lehre aus? Mein Vater mußte Scheiben putzen und in einem Kasten schablonieren, was sehr viel Staub aufwirbelte. Daher mußte diese Arbeit in dem bewußten Kasten durchgeführt werden, in dem eine Öffnung für den Kopf frei gelassen war. „Der Staub kam nun nicht mehr in die Werkstatt, dafür: aber in meine Nase und meinen Mund.“ Ansonsten hatte der Lehrling vorwiegend die Aufgabe, das Frühstück für den Meister und die Gesellen einzukaufen. Den weiten Weg vom Wedding zum Berliner Westen mußte mein Vater zu Fuß zurücklegen. Dafür benötigte er nicht weniger als eineinhalb Stunden. Der karge Lehrlingslohn: Das waren drei Mark im Monat, die Otto vollständig zu Hause ablieferte, da der Vater nur sieben Mark Kostgeld in der Woche abgeben konnte.
Eine Ohrfeige von Glasermeister Benz…
Im gleichen Jahr wurde Otto Nagel Mitglied der „Freien Jugendorganisation“. Hier erlebte er die erste illegale Arbeit in der Arbeiterbewegung. Es kam der 1.Mai 1910. Alle Arbeiter der Kunstwerkstatt blieben der Arbeit fern, um zu demonstrieren, nur die Glasmaler erschienen zur Arbeit. Otto Nagel schloß sich den demonstrierenden Arbeitern an. „Am nächsten Tag wurde ich vom Glasermeister Benz mit einer Ohrfeige empfangen“ – mit dem Erfolg, daß Otto Nagel sofort seine Lehre aufgab. Er begann als Lackierei im Alexanderwerk, das vorwiegend Haushaltsgegenstände herstellte. Am Abend besuchte er eine Abend-Volksschule, wo einem „das Malen und Zeichnen beigebracht werden sollte“. Sollte, denn die Ausbildung beschränkte sich auf das Abzeichnen von Gipsornamenten. Otto Nagel begann jetzt, Ölbilder zu malen. Mit diesen ersten zeichnerischen und malerischen Versuchen stand er ganz allein, seine Brüder und Eltern hatten keinen Sinn dafür. Wenigstens von seinen Arbeitskollegen, die auch seine Modelle waren, bekam Otto Nagel ab und zu ein Lob.
Im Straflager Wahn bei Köln
In den folgenden Jahren arbeitete Otto Nagel in verschiedenen Berufen. Im Jahre 1917 beteiligte er sich am Berliner Brotstreik, den er, damals bei Bergmann-Borsig beschäftigt, mitorganisiert hatte. Außerdem war Otto Nagel beim großen Hungermarsch zum Zentrum Berlins dabei. Das alles hatte zur Folge, daß man ihn, als er kurz danach den Gestellungsbefehl erhielt, gar nicht erst in den Schützengraben schickte, sondern gleich in das berüchtigte Arbeits- und Straflager Wahn bei Köln. Bei Zusammenbruch der Front und Kriegsende wurde mein Vater Mitglied des Kölner Soldatenrates.
Der „Arbeitermaler vom Wedding“
Nach Berlin zurückgekehrt, stürzte sich Otto Nagel in den harten politischen Kampf der Nachkriegsjahre. Auf Grund seiner aktiven Beteiligung am großen Märzstreik 1921 wurde er auf die schwarze Liste gesetzt und verlor dadurch für immer seinen Arbeitsplatz. Zur gleichen Zeit gab es einen Erfolg für den Maler: im Berliner Osten die erste Otto-Nagel-Ausstellung. Die namhaftesten bürgerlichen Kunstkritiker sparten nicht mit Anerkennung und Lob. Otto Nagels Bilder zeigten, was er dachte, fühlte, die Wirklichkeit seiner Umgebung, die Menschen des Wedding. Der „Arbeitermaler vom Wedding“ war entdeckt. So wurde aus dem malenden Arbeiter der Maler Otto Nagel, der seine Heimat, den Wedding, und die dort lebenden einfachen Menschen, für die er sich stets einsetzte und kämpfte, nie vergessen hat.
Gemeinsam mit Käthe Kollwitz und Heinrich Zille
Trotz der verschiedenen Kunstströmungen in den zwanziger Jahren blieb Otto Nagel beharrlich auf dem von ihm einmal eingeschlagenen Weg, hart auf der Straße des Lebens. Er zeigte in seinen Bildern die brennende Not der arbeitenden Klasse, ihre Leiden, ihre Verzweiflung. Im Jahre 1921 gewann mein Vater die wertvolle Freundschaft eines Heinrich Zille und einer Käthe Kollwitz. Das waren Freundschaften, denen erst der Tod ein Ende bereitete. Mein Vater hat mit seinen Büchern diesen Künstlern ein bleibendes Denkmal gesetzt. Ein wesentliches Bild entstand in der damaligen Zeit: „Die Ausgesperrten“ (1922). Fahl und kalkig die Gesichter der Dargestellten. Augen ohne Glanz. Schäbige, ausgefranste Kleidung. Hoffnungslos wartende Menschen. Eine erschütternde Dokumentation.
Eine Ausstellung in der Sowjetunion (1924/25)
Aber neben seiner künstlerischen Tätigkeit arbeitete Otto Nagel nach wie vor politisch. Bereits am 1. Januar 1919 war er Mitglied der KPD geworden. 1921 wurde Otto Nagel Mitbegründer und Sekretär der „Künstlerhilfe für das hungernde Rußland“. Und dorthin fuhr er auch als Organisator der „1. Allgemeinen Deutschen Kunstausstellung“, die in den Jahren 1924/25 in Moskau, Leningrad und Saratow gezeigt wurde. In dieser Ausstellung hingen mehrere Bilder Otto Nagels. Als er einmal eine Gruppe sowjetischer Menschen durch die Ausstellung führte, kam er auch vor seine Arbeiten. Auf die Frage, wer denn diese Werke gemalt hätte, antwortete Otto Nagel: „Ich.“ Daraufhin klatschten alle begeistert und warfen ihn in die Luft. Solche demonstrativen Freudenausbrüche wären im damaligen Deutschland unmöglich gewesen, war doch das allgemeine Interesse für Kunst auf ein Minimum gesunken. Von dieser Reise brachte Otto Nagel nicht nur unauslöschliche und für sein künftiges Werk entscheidende Eindrucke mit. Mit ihm kam seine russische Frau Walentina, die fünfundvierzig Jahre lang eine treue Weggefährtin werden sollte.

 
Nach seiner Rückkehr wagte mein Vater sich zum ersten Mal an großformatige Bilder. In dieser Zeit entstanden so berühmte Arbeiten wie: „Arbeitsnachweis“, „Kartoffelesser“, „Urnenbegräbnis“, „Laufen lernen“, „Briefträger“. Zur gleichen Zeit wurde er auch „museumsreif“. Die Stadt Berlin erwarb das Bild „Arbeitsnachweis“, und das Städtische Museum Stettin kaufte das „Arbeiterbrautpaar“. Diese Bilder sind in den Nazijahren verlorengegangen.
Kunst als Waffe im Klassenkampf
Im Jahre 1926 fand wieder – nach fünf Jahren – eine große Einzelausstellung Otto Nagels in einem Arbeiterlokal statt. Wieder hatten seine Bilder eine ungeheuere Resonanz. Dieser Ausstellung folgten viele andere, so in Münster und Breslau, aber auch die ersten Beteiligungen an den großen Ausstellungen in der damaligen Preußischen Akademie der Künste in Berlin. Die Dargestellten auf den Bildern meines Vaters waren nach wie vor die Menschen des Wedding: Arbeiterkinder, Arbeitslose, von der Arbeit entmenschlichte Männer und Frauen. Bilder, bei deren Anblick man vor Schmerz hätte aufschreien mögen. Man begriff in dieser Zeit, daß die Kunst eine Waffe sein kann, wenn sie dazu dient, schreckliche gesellschaftliche Zustände aufzudecken. Die Bilder Otto Nagels wurden immer stärker zum Manifest seiner Klasse. Kurz vor Beginn der Nazizeit entstand das Polyptichon „Weddinger Familie“. Mit diesem Bild wollte Otto Nagel die Zerrissenheit innerhalb der deutschen Arbeiterschaft zeigen. Von den acht Bildern sind nur noch der „Jungkommunist“, der „Arbeitersportler“ und der „Großvater“ erhalten geblieben. Zusammen mit Heinrich Zille gründete Otto Nagel im Jahre 1928 den „Eulenspiegel“, eine politisch-satirische Zeitschrift. 1929 folgte die Mitarbeit an dem inzwischen in die Filmgeschichte eingegangenen Film „Mutter Krausens Fahrt ins Glück“.
Faschismus und Deportation ins KZ Sachsenhausen
Es kam das Jahr 1933 und mit ihm die nationalsozialistische Herrschaft. Das bedeutete für einen progressiven Künstler wie Otto Nagel: Arbeitsverbot, Verfolgungen, Haussuchungen. Und schließlich im Jahre 1937 das Konzentrationslager Sachsenhausen. Nach seiner Entlassung entstand das Pastell „Zwei Stunden nach der Entlassung aus dem KZ“, ein erschütterndes Bild: In den Augen steht das grauenvoll Erlebte geschrieben, der Kopf ist kahlgeschoren. In den Jahren bis zur endgültigen Befreiung von der Barbarei betätigte sich Otto Nagel vorwiegend als Chronist des alten Berlin. Viele hundert Pastelle entstanden in dieser Zeit, oftmals im Wettlauf mit den Bomben. Nicht selten war das am Tag vorher gemalte Haus in der Nacht zerstört worden. „Ich bin froh, daß ich sie noch gemalt habe – die alte Stadt am Ende – wie ich es ja auch bin, daß ich die alte Mutter porträtierte, bevor sie für immer fortging.“
Rückkehr ins Nachkriegschaos 1945
1945 konnte mein Vater das traurige Fazit ziehen, daß über achtzig Prozent seiner Arbeiten vernichtet waren. „Hoffnungen von früher erfüllten sich; aber zwischen dem Damals und der Erfüllung liegen entsetzliche Erlebnisse, die man nicht wegwischen kann. Man kann nicht einfach da fortsetzen, wo man 1933 aufgehört hat. Der Hitlerkrieg ließ uns, auch auf kulturellem Gebiet, ein Chaos zurück. Ich betrachtete es als meine Pflicht, mit allen Möglichkeiten und mit allen meinen Kräften mitzuarbeiten an der Beseitigung des geistigen Ruinenfeldes, an der Wiedererweckung eines neuen kulturellen Lebens.“ Wir lebten zu dieser Zeit in einem kleinen Ort bei Potsdam. Mein Vater wurde mit dem Aufbau und der Leitung des Landesverbandes Brandenburg beauftragt. Außerdem war er Mitbegründer des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands, Mitglied des Landtages Brandenburg und des Deutschen Volksrates. Seine eigene künstlerische Arbeit stellte Otto Nagel weit zurück. Als Kommunist betrachtete er seine vornehmste Aufgabe auf politischem Gebiet:
„Wir wollen eine Welt schaffen, in der die junge Malergeneration mit gutem Gewissen helle, frohe Farben anwenden kann. Darin sehe ich den Sinn meiner Arbeit. Wenn uns dies gelungen ist, können wir unsere Aufgabe in andere Hände legen und wieder zur Staffelei zurückkehren.“

 
1948 wurde Otto Nagel der Titel Professor verliehen, 1950 gehörte er zu den Gründungsmitgliedern der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin. Und im gleichen Jahr ehrte der erste deutsche Arbeiter-und-Bauern-Staat den Arbeitermaler vom Wedding mit dem Nationalpreis. Viele hohe Auszeichnungen und Ehrungen folgten, aber – nur wenige Bilder entstanden. Daß Otto Nagel trotzdem das Neue in Menschen und Landschaft künstlerisch nicht unberührt ließ, zeigen die Bilder „Selbstbildnis mit rotem Schal“ (1949), „Er ist wieder tätig“, „Adolf Hennecke“, „Bernhart Kellermann“, „Neubauer“ – und die vielen Pastelle Anfang der fünfziger Jahre vom Wiederaufbau Berlins und vom Weltjugendtreffen. Otto Nagel wurde in die Funktion des Präsidenten der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin berufen; darin erkennt man einerseits die hohe Anerkennung und Würdigung des Künstlers, andererseits den Charakter des neuen deutschen Staates, unserer Deutschen Demokratischen Republik. In seinen Erinnerungen schreibt Otto Nagel:
„Ich habe manches versucht, verworfen, neu versucht. Man ist sich selbst gegenüber, nicht zuletzt durch die Öffentlichkeit veranlaßt, sehr kritisch geworden, obwohl man von Hause aus dem eigenen Werk gegenüber immer mißtrauisch war und Selbstzufriedenheit als gefährlich empfand. Ich habe noch viel vor. Ich will durch meine Kunst helfen, die bessere Ordnung, die wir uns schaffen, zu gestalten und zu sichern. Wenn ich mein Leben als Mensch und mein Schaffen als Künstler rückschauend überblicke, so bin ich im ganzen nicht unzufrieden. Gewiß, manches hätte ich anders, vieles besser machen können, aber man wird mir nicht nachsagen können, daß ich mir nicht redlich Mühe gegeben habe, mein Pflicht als Mensch zu erfüllen, meine Bilder als Maler so gut ich konnte zu malen.“
Ein Zeugnis dafür gibt das 1963 entstandene letzte Selbstbildnis „Der alte Maler“; rastlose Tätigkeit trotz Krankheit, kritische Auseinandersetzung mit sich selbst trotz Ehrung und Anerkennung. Am 12. 7. 1967 erlag Otto Nagel seiner schweren Krankheit.

 
Seine letzten Pastelle „Abschied vom Fischerkietz“, mit erstaunlicher Sensibilität und Frische gezeichnet, sind nicht nur Abschied vom alten Berlin – es ist auch der Abschied eines großen und doch so bescheidenen Menschen. Andererseits gibt es aber diesen Abschied nicht – mit seinen letzten Pastellen, stellvertretend für sein gesamtes Werk, hat er nicht nur der Arbeiterklasse und dem alten Berlin, sondern sich selbst und damit auch uns ein bleibendes Denkmal gesetzt.
Quelle:
Die Zaubertruhe – Ein Almanach für junge Mädchen, Der Kinderbuchverlag Berlin, 1971, S.250-259. (Zwischenüberschriften von mir, N.G.), Bilder: Zaubertruhe.

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